Indiens Straßen sind bizarr. Das Leben spielt sich vor den Türen zahlreicher Haushalte ab. Die Menschen leben in ihren kleinen
Läden, haben bis spät abends geöffnet. Und während die Straße an mir vorbeizieht, kann ich alles beobachten. Es ist ein Film der vor meinen Augen abgespielt wird. Nur das hier ist viel besser. Es
ist live. Ein junger Mann steht an seinem Verkaufstisch. Vor ihm liegt ein Haufen Zuckerrohrstangen und eine Saftpresse. Er klappt die Zeitung auf. Der Tag wird noch lange sein und er hat
genügend Zeit. Daneben sitzt eine ältere Frau mit zurückgebundenen grauen Haaren und rotem Strich am Haaransatz auf ihrem Verkaufstresen. Über ihr ein blaues Plastikdach. Bereits am Vormittag ist
es drückend heiß. Sie sucht Schutz. Zwei ältere Herren sitzen am Straßenrand und rauchen, während daneben zwei Schulmädchen sich Tücher vor die Nase und den Mund halten weil die
Feinstaubbelastung der Stadt unerträglich ist. Hunde streunen im Rudel herum. Ein alter Mann kocht Chai Tee für seine Kunden. Ein junger Mann mit verrissenen Hosen steigt auf sein Motorrad und
kämpft sich durch den Verkehr während am Gehsteig ein alter Mann auf dem nackten Boden schläft, seine Hände hinter dem Kopf zusammengefaltet. Er ist es wahrscheinlich gewohnt so zu schlafen, er
sieht zufrieden aus. Sein Gesicht ist gezeichnet von Falten und seine Stimme hätte viele Geschichten zu erzählen. Ich gehe an ihm vorbei, aber er scheint mich nicht zu spüren. Inder können
überall schlafen. Der Lärm, die Luftverschmutzung und die Hitze scheint sie nicht zu stören. Die Straße ist von vielen das zuhause. Mensch und Tier teilen sich den Lebensraum so gut es
geht.
Lychieewägen werden herumgeschoben auf der Suche nach Kunden, Gläser gespült bevor sie wieder gefüllt werden mit selbstgemachten Säften. Aus Pfannen werden Speisen auf Teller gelegt. Teigtaschen brutzeln im Öl. Der Verkäufer streicht sich über seinen grauweißen Schnurrbart. Ich würde ihn gerne fotografieren während ich auf meinen Chai Tee warte, traue mich aber nicht. Er starrt auf meine bemalten Henna Hände oder Mehndi wie die Inder sagen, siebt den Tee ab und stellt mir das heiße Glas hin. „Hot!“, warnt er mich. Ich halte das Glas ganz oben und ganz unten fest. Er streckt seine alten Hände aus um das Geld entgegen zu nehmen. Lächelt mir zu. Es ist als ob er mir etwas Aufmunterung schenken möchte. Ich weiche einer leeren Coca Cola Flasche aus und setze mich auf den kaputten Plastikstuhl, nehme einen kleinen Schluck vom Chai Tee, schließe kurz die Augen, bis es wieder hupt. Ein neuer Tag in diesem spannenden Chaos.
Es sind so viele Menschen auf der Straße und sie alle sind ständig mit irgendetwas beschäftigt. Wenn nicht, schlafen sie. Und noch nie in meinem Leben habe ich so viele Tiere auf der Straße
gesehen. Straßenhunde, Schweine die im Müll nach etwas essbarem suchen, heilige Kühe queren die Straße wie es ihnen gefällt. Sie suchen verzweifelt in den Müllhalden nach Essen und kauen zur
Not auf Zeitungen oder Plastiksäcken herum. Am liebsten würde ich zur Kuh rennen und ihr den Plastiksack aus dem Maul ziehen. Das kann nicht gut sein. Sie malmt weiter, ich gehe weiter. Die Hunde
schleichen um die Essensstände herum, ihr Hundeblick wird ignoriert. Eine Bettlerin verteidigt ihren Platz und scheucht einen Hund brutal weg. Ich will aufschreien, will zu ihr gehen, sie
anschreien, will den Hund beschützen. Ich kann nicht, ich sehe, auch sie kämpft nur um ihr Überleben, wie sie hier sitzt, umgeben von Dreck, hungrig, wartend auf ein bisschen Geld. In einigen
Städten kommt die Affenplage dazu. Die Affen sind nicht bereit zu teilen. Sie sehen Touristen mit Essen in den Händen und gehen direkt auf sie zu. Sie sind schnell und alles andere als scheu.
Eine Frau hat den einen Affen bereits gesehen aber sie umklammert noch ihr Eis, sie ist nicht bereit zu teilen. Der Affe geht zuerst gemählich auf sie zu, bis er an Geschwindigkeit zulegt und ihr
plötzlich ans T-Shirt greift und daran fest zerrt, so lange bis die Frau schreit und ihr Eis von sich wirft. Er hat erreicht was er will.
Die Tiere wirken niedlich solange sie klein sind aber sie haben es alle faustdick hinter den Ohren und werden auch aggressiv. Es ist ein witziges Bild wie alle Touristen zuerst Fotos von den
Affen machen, dann ihre bösen Blicke bemerken und so schnell wie möglich alles wieder einpacken. Als ein Affe sich meiner Tasche nähert, nehme ich Reißaus.